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Vom Ärzteboom zur Versorgungskrise: Warum Deutschland trotz Rekordzahlen an Ärzten unter Mangel leidet

Deutschland hat so viele Ärzt:innen wie nie zuvor – und dennoch steht die Grundversorgung vor dem Kollaps. Während in Kliniken und Spezialbereichen die Arztzahlen steigen, ächzt die hausärztliche Versorgung unter Personalmangel, Überlastung und Bürokratie. Ein Paradox, das zeigt: Unser Gesundheitssystem schafft es, aus einem Überfluss an Ärzten einen Mangel zu organisieren.


Mehr Ärzt:innen – aber nicht da, wo sie gebraucht werden

Seit 1990 ist die Zahl der Ärzt:innen in Deutschland von 238.000 auf 429.000 gestiegen. Doch die Verteilung zeigt ein klares Ungleichgewicht: In Krankenhäusern und spezialisierten Fachrichtungen wächst die Zahl stetig, während die Hausärzte kaum zunehmen. Besonders dramatisch: Ein Drittel der aktuell tätigen Hausärzt:innen wird in den kommenden zehn Jahren in den Ruhestand gehen. Schon jetzt sind ländliche Regionen teilweise unterversorgt – und die Patienten warten lange auf Termine.

Das Problem ist nicht die reine Zahl an Ärzt:innen, sondern die falsche Steuerung: Attraktive Verdienstmöglichkeiten, geregeltere Arbeitszeiten und Karrierechancen locken in spezialisierte Bereiche oder in Kliniken – während die Hausarztmedizin als „unattraktiv“ gilt.


Hausärzt:innen am Limit – jede:r Vierte denkt ans Aufhören

Eine aktuelle Umfrage zeichnet ein alarmierendes Bild: Rund 25 % der Hausärzt:innen planen, innerhalb der nächsten fünf Jahre ihren Beruf aufzugeben. Die Gründe sind vielfältig – aber sie lassen tief blicken.

  • Bürokratie: Überbordende Dokumentationspflichten fressen wertvolle Zeit, die für Patientengespräche fehlt.
  • Arbeitsbelastung: Hausärzt:innen arbeiten im Schnitt 44 Stunden pro Woche – viele berichten von chronischer Überlastung.
  • Digitalisierung: Eigentlich als Entlastung gedacht, wird die Telematikinfrastruktur mit ihren Konnektoren, Kartenlesegeräten und ständigen Ausfällen oft eher als zusätzliche Belastung wahrgenommen.
  • Neue Systeme: Diskussionen über ein „Primärarztsystem“, bei dem Patient:innen vor jedem Facharztbesuch zuerst zum Hausarzt müssten, stoßen bei vielen auf Skepsis.

Die Folge: Resignation, Frust und die Überlegung, die Praxis aufzugeben. Für die Patienten bedeutet das noch weniger Zugang und längere Wartezeiten.


Digitalisierung: Fortschritt oder Placebo?

Ein Hoffnungsträger sollte die Digitalisierung sein – mit der elektronischen Patientenakte (ePA) und einer vernetzten Telematikinfrastruktur. Doch auch hier überwiegen die Probleme: Sicherheitslücken, unklare Zugriffsrechte und technische Störungen belasten Praxen zusätzlich. Kritiker warnen, dass am Ende nicht die Versorgung, sondern vor allem die Datenwirtschaft profitiert.

Für Hausärzt:innen heißt das: Noch mehr Bürokratie, mehr Technikfrust und weniger Zeit für den eigentlichen Kern ihrer Arbeit – die medizinische Versorgung der Patient:innen.


Ein System, das sich selbst blockiert

Die Zahlen sind eindeutig: Deutschland hat so viele Ärzt:innen wie nie zuvor. Doch weil die Rahmenbedingungen für Hausärzt:innen unattraktiv sind, weil die Bürokratie überhandnimmt und weil Digitalisierung mehr Probleme schafft als löst, entsteht eine paradoxe Situation: Ein Mangel im Überfluss.

Provokant gefragt: Wollen wir wirklich, dass ein Drittel der Hausärzt:innen in den kommenden Jahren aussteigt, während wir gleichzeitig Millionen in technische Infrastruktur stecken, die den Alltag eher erschwert als erleichtert?

Die Lösung liegt auf der Hand – aber sie erfordert Mut zur Veränderung:

  • Hausarztmedizin aufwerten – finanziell und gesellschaftlich.
  • Bürokratie abbauen – weniger Formulare, mehr Zeit für Patienten.
  • Digitalisierung sinnvoll gestalten – Technik als Hilfe, nicht als Hürde.

Nur so lässt sich verhindern, dass Deutschland in eine Versorgungskrise schlittert, die längst Realität geworden ist.


Fazit

Das deutsche Gesundheitssystem steht an einem Scheideweg: Entweder wir schaffen es, die Hausarztversorgung zu sichern und die Digitalisierung im Sinne der Patient:innen zu gestalten – oder wir laufen in eine Krise, die Millionen Menschen betrifft. Der Ärztemangel ist kein Schicksal, sondern hausgemacht. Die Frage ist: Haben Politik und Gesellschaft den Mut, gegenzusteuern?


Quellen

Lesetipp: Krankenhaussterben in Deutschland – Warum Kliniken trotz Milliardenhilfen schließen müssen

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